Die Sonnentür des Berges Nona
Auch am vergangenen Wochenende haben sich die Apuanischen Alpen mit ihrem verführerischen Zauber bei mir gemeldet. Das tun sie eigentlich immer, aber meistens fehlt es mir an der Zeit, ihrem Ruf zu folgen. Auch die Verpflichtungen scheinen irgendwie eher mehr als weniger zu werden.
Diesmal war ein Ausflug auf dem Programm, den man sich unter keinen Umständen entgehen lassen durfte. Es ging darum, den Sonnenaufgang durch die Sonnentür des Berges Nona zu beobachten. Gemeint sind zwei große Felsbrocken, die sich fast, aber nur fast berühren. Es besteht ein kleiner Zwischenraum, der etwa zwanzig Zentimeter breit und um die zwei Meter hoch ist. Die beiden Steine sind durch einen Felsbrocken verbunden, der über ihnen ruht und eben diese Öffnung bildet. Nur zweimal im Jahr, während der Sommer- und während der Wintersonnenwende, kann man durch den schmalen Spalt verfolgen, wie die Sonne aufgeht.
Echt interessant und ich war auch richtig neugierig, wenn da nicht ein kleiner Haken gewesen wäre. Um diesem besonderen Moment von Anfang bis Ende beiwohnen zu können, mussten wir natürlich etwas vor Sonnenaufgang vor der Tür stehen. Das bedeutete, um zwei Uhr morgens den Wecker stellen und um drei Uhr Richtung Berghütte Alta Matanna, unserem Treffpunkt, fahren. War das hinzukriegen? Klar, natürlich. Keine Frage.
Wir trafen unsere beiden Bergführer auf halbem Weg und nach weiteren fünfundvierzig Minuten kamen wir auf dem Parkplatz der Berghütte an, wo schon eine kleine Gruppe auf uns wartete. Da es galt keine Zeit zu verlieren, begannen wir sofort mit dem Aufstieg.
Mein Hund tat was er am meisten liebt, d.h. sofort bis zum Anfang der Reihe vorzudringen und den Modus „Gehweise des Arbeitshundes“ aktivieren. Dabei läuft er stetig vor uns her und beobachtet genau, was sich vor ihm befindet, um uns vor eventuellen Gefahren zu warnen. Er lässt sich durch nichts ablenken, folgt keiner Tierfährte und widersteht stoisch allen einladenden Düften. Er macht das richtig gut.
Bei mir sieht das ein bisschen anders aus. Für mich müssen die ersten fünf, sechshundert Meter ohne Steigung sein, weil mir sonst der Atem fehlt. Da ich nicht wusste was uns erwartet, hatte ich neben der Kamera auch zwei Objektive und ein Stativ mitgebracht. Mir war klar, dass der Weg deshalb ziemlich anstrengend werden würde. Trotzdem war es richtig schön der kleinen Menschenschlange zu folgen, die mit ihren blinkenden Taschenlampen leicht schwankend im völligen Dunkel vor mir den Berg hinaufkletterte.
Wir waren alle voll konzentriert und achteten sehr darauf, wo wir unsere Füße aufsetzten, kamen unserem Ziel aber doch langsam Meter um Meter näher. Nach etwa einer halben Stunde, so fühlte es sich immerhin an, kamen wir an einem großen Holzkreuz vorbei und irgendwann ging der Weg – für mein Gefühl gefährlich nahe – einer tiefen Schlucht entlang weiter. Inmitten all dessen hatte der Sonnenaufgang begonnen, den Horizont mit orangefarbenen Pinselstrichen zu bemalen. Am Ende kamen wir auf einer kleinen Wiese direkt vor der Tür an. Man konnte sie sogar anfassen, weshalb Teleobjektiv und Stativ total nutzlos waren. Die Sonne wartete schon ganz ungeduldig auf unsere Ankunft, hat uns aber dann doch ein paar Minuten geschenkt, damit wir herausfinden konnten, von wo aus das außergewöhnliche Ereignis am besten hätte fotografiert werden können.
Die Einwohner der Apuanischen Alpen haben Jahrhunderte lang Gestein abgebaut und abtransportiert, aber es wäre doch sehr interessant gewesen herauszufinden wer, wann und warum den riesigen Stein über die beiden darunter liegenden Felsbrocken gestemmt hat, um die Sonnentür vor uns zu schaffen.
Unsere Bergführer erklärten uns, dass das Magnetfeld auf der Wiese die normalen Werte weit überschreitet. Wir befanden uns anscheinend an einem übernatürlichen, fast magischen Ort, und für einen Augenblick lang war ich mir nicht sicher ob die große, schlanke Silhouette, die kurz über der Tür herumturnte, nicht ein Kobold gewesen sein könnte. Erst als wir später auf den Gipfel stiegen, sahen wir zwei Zelte mit vier jungen Männern und einem Hund, die die Nacht hier oben verbracht hatten. Was für ein Abenteuer fuer sie aber leider keine Kobolde fuer uns…
Dann war die Sonne plötzlich da, der Stern, der der Erde am nächsten ist und ohne dessen warme, helle Strahlen, es kein Leben gäbe. Die Menschheit hat es schon immer gewusst und in allen Kulturen wurde die Sonne durch heidnische und magische Riten an sorgfältig ausgewählten Orten beschworen und verehrt. Könnte die Wiese, auf der wir uns befanden, einer von ihnen sein?
Höchstwahrscheinlich werden wir es wohl nie erfahren, aber der besondere Moment hat mich doch tief berührt. Es war, als ob ich für einen Augenblick den Aufgang des goldenen Lichts am Himmel genauso gefeiert hätte wie die antiken Völker in der Vergangenheit.
Sobald wir mit dem Fotografieren des ganz speziellen Ereignisses fertig waren, setzten unsere Führer den Aufstieg zum Gipfel des immerhin 1297 Meter hohen Berges Nona fort. Nicht einfach, aber machbar. Als wir oben ankamen, blies starker Wind und wir waren erleichtert, dass wir dem Vorschlag der Bergführer eine Windjacke oder einen Pullover mitzubringen, gefolgt waren. Nach ein paar Erinnerungsfotos ging es direkt wieder hinunter zur Alta Matanna Berghütte, wo uns ein schönes, großzügiges Frühstück erwartete. Wir hatten das Gefühl, dass Stunden seit unserem Anstieg vergangen waren, in Wirklichkeit war es nicht einmal neun Uhr.
Nach einer Weile bereitete sich die Gruppe auf den Weg zum Berg Matanna vor. Mein treuer, vierbeiniger Leibwächter und ich kehrten nach Hause zurück. Über unseren Köpfen, da war ich mir sicher, fuhr die Göttin Sòl auf ihrem Sonnenwagen, von ihren zwei Pferden gezogen, über den Himmel. Ja, auch wir, die Menschen vom Norden, haben Geschichten und Mythen, die tief in unseren Herzen und Seelen verankert sind.
Ruth Recher
Liebe Anneliese, beim lesen Deines Berichtes laufe ich mit und die Fotos helfen bei der Vorstellung dabei zu sein. Danke, dass Du mich mitnimmst !
Agnese
Wenn du nächstes Mal in die Toskana kommst, gehen wir zusammen.